Kunst nach der Shoah

VOSTELLs Happening-Raum THERMO-ELEKTRONISCHER KAUGUMMI (T.E.K.) aus dem Jahr 1970 im Museum Ostwall
Wolf Vostell: Thermo-Elektronischer Kaugummi (T. E. K.), 1970
Installation: 5 Lichtquellen, 30 Metallpfähle mit Stacheldraht, 5 Koffer mit Radios und
wärmeempfindlichen Mikrophonen, 13.000 Löffel und Gabeln, Maße variabel
Museum Ostwall im Dortmunder U, Dortmund © VG Bild-Kunst, Bonn 2022

Wolf Vostell im Dialog mit Boris Lurie

Zwei Künstler, ein Thema – als Wolf Vostell (1932–1998) und Boris Lurie (1924–2008) sich Mitte der 1960er-Jahre kennenlernten, verband sie bald mehr als eine tiefempfundene Freundschaft. Beide bezogen mit ihrer Kunst politisch Stellung, beide beschäftigten sich mit der Aufarbeitung der Schrecken des Holocaust, beide traten Krieg und Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit aller Kraft entgegen.

Ihre rauen Arbeiten widersetzten sich einer einfachen Konsumierbarkeit, die ihnen als ein Gräuel des Kunstbetriebs erschien. Heute wirken die Werke der beiden Künstler aktueller denn je, setzen sie doch auf eine Art Schocktherapie, mit der sie das Publikum auf die Kontinuität von Gewalt und Menschenverachtung aufmerksam machen.

Wolf Vostell und das Atelier in Berlin-Dahlem

Wolf Vostell gehört zu den bedeutendsten deutschen Künstler:innen des 20. Jahrhunderts und ist insbesondere als Mitbegründer der Fluxus-Bewegung bekannt.

Anlässlich seines 90. Geburtstages widmet das Kunsthaus Dahlem ihm und seinemKünstlerkollegen Boris Lurie eine Ausstellung, die sich auf die künstlerische Aufarbeitung des Holocausts und der jüngeren deutschen Vergangenheit fokussiert.

WOLF VOSTELL in seinem Atelier im Käuzchensteig, dem heutigen KUNSTHAUS DAHLEM
Wolf Vostell in seinem Atelier, 1980 (Bild links) und 1981 (Bild rechts). © The Wolf Vostell Estate

Mit dem Ausstellungsort verbindet Wolf Vostell eine besondere Geschichte: Anfang der 1970er-Jahre zog der politisch engagierte Künstler aus dem Rheinland nach Berlin. Ihm erschien der Umzug in den »tragischen Luftkurort«, wie er die Stadt nannte, zwingend notwendig: »Weil [der Ort] ja unsere Geschichte beinhaltet und diese Geschichte verarbeite ich in meinen Bildern und in meinen Objekten.«

Die Stadt Berlin übertrug Vostell 1984 ein Atelier in Dahlem auf Lebenszeit. Die neue Wirkungsstätte befand sich in einem repräsentativen Ateliergebäude, das die Nationalsozialisten von 1938 bis 1942 für den Bildhauer Arno Breker erbaut hatten. Breker hatte in der NS-Zeit nicht nur zahlreiche Privilegien genossen, sondern mit seinen Werken aktiv die Ideologie und Ästhetik des NS-Regimes umgesetzt, insbesondere mit seinem Figurenschmuck für die zukünftige Reichshauptstadt Germania.

Aufarbeitung der Shoah

An diesem historischen Ort führte Wolf Vostell seine Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts fort, die er Ende der 1950er-Jahre begonnen hatte. Die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Diktatur und des Holocaust beschäftigte Vostell in allen Schaffensphasen – in einer Dichte und Vielfalt der künstlerischen Mittel wie kaum einen anderen Künstler seiner Zeit.

In der Ausstellung stehen dafür exemplarisch zwei Arbeiten, die wie eine Klammer sein Werk umschließen. So stehen sich Auschwitz-Scheinwerfer 568 von 1958/59 und dasüber sieben Meter lange Triptychon Shoah 1492–1945 von 1997 gegenüber. Im Zentrumdes großformatigen Bildes stürzt ein gemalter Betonpfeiler auf sich überlagernde,abstrakte Formen, die an manchen Stellen als Körperteile erkennbar sind. Vostell, derauch im spanischen Malpartida de Cáceres lebte, widmete das Werk den 1492 ausSpanien vertriebenen Juden ebenso wie den durch das NS-Regime Ermordeten. Seit 1992 hatte der Künstler mit der Motivfindung begonnen und das Werk schließlich 1997, einJahr vor seinem Tod, vollendet.

Wolf VOSTELLs Triptychon SHOAH 1492-1945 aus dem Jahr 1997 ist eines der Hauptwerke des Künstlers
Wolf Vostell: Shoah 1492–1945, 1997, Acryl und Beton auf Leinwand, Triptychon: 290 × 720 cm
The Wolf Vostell Estate © VG Bild-Kunst, Bonn 2022

Im gleichen Jahr äußerte er sich zur Verbindung derbeiden Werke: »Das ist dasselbe in Grün. Das Erste waren Objekte, kein Menschenbild,aber Zerstörungsreste von Menschen und über Menschen. Und der Raum hat alsodeshalb diese Widmung an Auschwitz und an Treblinka. Dieses Mal hat mich eine Figuration interessiert, die nicht illustrativ ist, sondern die Zerstörung im phänomenologischen Sinne zeigt, natürlich gebunden an das Thema. Es ist die Brückevon ’58 bis ’97, zwei Brückenpfeiler, über die eine Brücke geht, über die ich wahrscheinlich noch länger gehen werde.«

Boris Lurie und Wolf Vostell – mehr als eine Künstlerfreundschaft

Im Dialog mit Wolf Vostell stehen in der Ausstellung ausgewählte Arbeiten von Boris Lurie. Beide verband seit den 1960er-Jahren eine enge Freundschaft. Lurie wuchs in Riga auf und erlebte als Jude die Schrecken der Shoah am eigenen Leib. Vostell wollte diese traumatischen Erfahrungen als Deutscher nachempfinden. Es entstand ein intensiver Austausch zwischen den beiden Künstlern.

Während der weibliche Teil der Familie dem Massenmord der Nationalsozialisten zum Opfer fiel, überlebten Boris Lurie und sein Vater Ilja. Ab 1941 wurden die beiden in verschiedene Konzentrationslager verschleppt und am 18. April 1945 aus der Munitionsfabrik Polte in Magdeburg, einem Außenlager des KonzentrationslagersBuchenwald, befreit. 1946 wanderten sie nach New York aus, wo Boris Lurie 1959 die NO!art-Bewegung ins Leben rief.

Die großformatige Collage A JEW IS DEAD von No!-Art-Künstler BORIS LURIE aus dem Jahr 1964
Boris Lurie: A Jew Is Dead, 1964. Farbe und Papiercollage auf Leinwand, 170 x 295 x 5 cm

Luries Kunst zielte nicht auf Mitleid für die Opfer der Shoah, »sondern auf Erschrecken«. In seinen Werken brachte er immer wieder die nackten Leichenberge des Holocaust mit aufreizenden Pin-ups als Produkte des seiner Meinung nach gleichen inhumanen Systems zusammen. Sein erklärtes Anliegen bestand darin, das Publikum aus seiner selbstzufriedenen Passivität zu reißen und ihm das Fortleben verbrecherischer Systeme vor Augen zu führen. Nicht nur thematisch, sondern auch formal verfolgten die beiden Künstler-Freunde ähnliche Ziele und Strategien. Die zahlreichen inhaltlichen und stilistischen Parallelen zeichnet die Ausstellung im Kunsthaus Dahlem erstmals detailliert nach.

Wolf Vostell: Endogene Depression (version Los Angeles), 1980
Zement auf Fernsehgerät auf Tisch, 125 × 90 × 60 cm
The Wolf Vostell Estate © VG Bild-Kunst, Bonn 2022, Foto: Thijs ter Hart
Wolf Vostell: Endogene Depression (version Los Angeles), 1980
Zement auf Fernsehgerät auf Tisch, 125 × 90 × 60 cm
The Wolf Vostell Estate © VG Bild-Kunst, Bonn 2022,
Foto: Thijs ter Hart

Kuratiert wird die Ausstellung von Eckhart J. Gillen.

Die Ausstellung wird gefördert durch die LOTTO Stiftung Berlin, die Boris Lurie Art Foundation, New York, und unterstützt von The Wolf Vostell Estate.

DATEN

Laufzeit der Ausstellung: 8. Juli –30. Oktober 2022

Öffnungszeiten: Mittwoch – Montag 11:00–17:00 Uhr

Kontakt: Frau Dr. Petra Gördüren

Telefon: +49308312012

www.kunsthaus-dahlem.de

Das Kunsthaus Dahlem wird betrieben von der Atelierhaus Dahlem gGmbH, einer Tochtergesellschaft der Bernhard-Heiliger-Stiftung, Berlin.

KATALOG ZUR AUSSTELLUNG

Kunst nach der Shoah. Wolf Vostell im Dialog mit Boris Lurie

Hg. v. Dorothea Schöne und Eckhart J. Gillen

178 Seiten, 50 Abbildungen, Berlin 2022

ISBN 978-3-9824685-0-1

€ 20,00